Warum kauft man ein Neo Classic?

Als ich meinem ersten Neo Classic gekauft habe, einen Mercedes-Benz SL 55 AMG Kompressor, erntete ich viele Fragen und vielsagende Blicke meiner Freunde und Bekannten. Das Repertoire reichte von: “Warum gibst Du Geld für so eine alte Kiste aus?” “Das ist doch kein Oldtimer.” “Zum Bienenfänger taugt der aber nicht mehr.” “Der geht doch nur kaputt, lease lieber ein Neuwagen.” “So was fährt doch nur Halbwelt mit Migrationshintergrund.” Aber es gab auch andere Stimmen. Ganz andere. “Gute Wahl, jeder SL wurde bislang ein Klassiker. Besonders mit so einem Motor.” “Viel Auto fürs Geld.” “Tolles Auto, hätte ich damals das Geld gehabt, den hätte ich mir gekauft”. “Ein altes Auto und trotzdem hat es alles, was man sich heute in einem Auto wünscht.” Die Reaktionen waren also durchaus gemischt.

Warum also kauft man so ein Fahrzeug und nicht gleich einen richtigen Oldtimer? Oder wenigstens einen Youngtimer? Gründe dafür gibt es viele und die meisten davon sind nicht rational. Richtig ist, dass ich für den Preis des SL einen richtigen Klassiker, wenn auch die eine oder andere Fahrzeugklasse kleiner, bekommen hätte. Ob er zum Bienenfänger noch taugt, kann ich nicht beurteilen. Das habe ich mangels Notwendigkeit nicht ausprobiert. Geht er dauernd kaputt? Ein klares Nein. Bei wohl überlegter Auswahl des Fahrzeugs und vernünftiger Wartung ist er ein sehr zuverlässiges Fahrzeug. Schau ich mir an wie oft manche Premium-Leasing-Neuwagen mit verschiedenen Malaisen in der Werkstatt stehen, bin ich sogar geneigt zu sagen er ist sehr zuverlässig.

Was spricht noch für ein Neo Classic? Man bekommt relativ moderne Technik im Gewand eines alten Fahrzeugs, dass so gut wie aus dem Straßenbild verschwunden ist. Sicherheitsfeatures wie ABS, ESP und nicht zuletzt Airbags sind an Board und geben im Alltag ein beruhigendes Gefühl. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an die Werbekampagne von Mercedes-Benz für den Beifahrer-Airbag im W/V126: “Das ist doch ihre Frau?” laute die schnippische Frage an den Fahrer der schwarzen S-Klasse. Vernünftige Scheinwerfer, häufig schon Xenon, leuchten die Nacht aus. Sind wir doch mal ehrlich, wir werden langsam älter und sehen bei Nacht lange nicht mehr so gut, wie mit noch 20 oder 30. Auch an Komfortaustattungen herrscht selten Mangel. Abblendbare Innenspiegel, Zentralverriegelung, Tempomat und die für viele, vor allem Beifahrerinnen, unverzichtbare Sitzheizung sind Teil der Ausstattung.

Doch wie ist es um die Haltbarkeit der Technik, die notwendige Wartung und eventuell anfallenden Reparaturen bestellt? Immerhin handelt es sich um die erste, bzw. zweite Generation von Fahrzeugen, die komplett via Can-Bus vernetzt waren und ihre Elektronikprobleme scheinen bis heute legendär. Vergleicht man die Elektronik eines SL 55 mit der einer aktuellen Oberklasse Fahrzeug ist das, als wollte man die ersten Pentium Computer mit einen modernen PC der 9. Intel Core Generation vergleichen. Die Steuergeräte sind ihrem Aufbau nach heutigen Maßstäben grob und robust. Weit häufiger als die Steuergeräte sind defekte Kabel der Grund für spinnende Elektronik. Was die reine Mechanik anbelangt würde ich dies Fahrzeuge sogar als sehr robust bezeichnen. Sie sind längst nicht so an die Grenze gebaut, wie moderne Fahrzeuge. Laufleistungen von 3, 4 oder 500.000 KM sind bei vernünftiger Wartung und Pflege kein Thema. Auch eventuell benötigte Ersatzteile stellen normalerweise kein großes Problem dar. Und wenn sie vom Hersteller nicht mehr geliefert werden, sind häufig genug schon Spezialisten in die Bresche gesprungen. Für die fälligen Wartung gibt es für viele Modelle bereits Betriebe, die sich genau auf diese spezialisiert haben.

Bleibt ein Neo Classic letztlich, trotz allem, nicht doch einfach nur ein älterer Gebrauchtwagen? Ich erinnere mich an eine Begebenheit aus meiner Jugend. Es war Sommer 1982. Der Vater eines Bekannten hatte sich eine Pagode gekauft. Ein 12 Jahre alter 280 SL. Dabei war der Nachfolger, der R107 schon 11 Jahre auf dem Markt und die Pagode damals nichts anderes als ein alter Gebrauchter. Heute sind Pagoden gesuchte Klassiker. Top Exemplare haben mittlerweile die 200.000 Euro Grenze erreicht. Hätte das damals im Sommer 1982 jemand für möglich gehalten? Wohl kaum einer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert